fbpx
Suche

Die Kraft der Träume: Die Jugend von Cabula fordert ihre Rechte

Junger Mann - Projekt Odara - terre des hommes schweiz
Magno Ferreira de Jesus engagiert sich gemeinsam mit anderen jungen Menschen für Frieden in seinem Quartier. Foto: Rafael Martins

In Salvador, Brasilien, engagiert sich eine Gruppe junger Menschen für eine gerechte Zukunft. Es geht ihnen dabei um nichts weniger als darum, tief verwurzelte Strukturen von Rassismus, Diskriminierung und Gewalt zu überwinden. Magno Ferreira de Jesus weiss, was es dafür braucht: Die Möglichkeit zu träumen. 

Einschusslöcher zeichnen die Fassade und das Eingangstor des Hauses, in dem Magno Ferreira de Jesus wohnt. Der 29-Jährige lebt in Cabula, einem Quartier der Millionenstadt Salvador im brasilianischen Bundesstaat Bahia. In seiner Nachbarschaft gehören Schüsse zum Alltag. «Wenn ein Polizeieinsatz stattfindet, werde auch ich zur Zielscheibe», sagt er.     

Jedes Jahr sterben in Salvador Kinder und Jugendliche durch staatliche Gewalt. Zehn Jahre ist es her, dass bei einem Polizeieinsatz mitten in Cabula zwölf Jugendliche getötet wurden. Dieses Massaker hat tiefe Wunden in der Gemeinde hinterlassen. «Darüber zu sprechen, fällt uns allen immer noch schwer», erzählt Magno. «Auch ich habe Kolleg*innen, Freund*innen und Nachbar*innen verloren. Ich hätte einer von ihnen sein können.» Um eine juristische Aufarbeitung kämpfen die betroffenen Familien bis heute.  

Die Gewaltsituation in Cabula hat historische Wurzeln. 1,7 Millionen Menschen wurden während der Kolonialzeit nach Bahia verschleppt. Naiara Leite, Leiterin von Odara, der lokalen Partnerorganisation von terre des hommes schweiz, erklärt: «Nach der Abschaffung der Sklaverei wurden Institutionen geschaffen, deren Ziel darin bestand, die Schwarze Bevölkerung weiter unter Kontrolle zu halten. In dieser Logik wurden auch die Stadtteile, in denen ein Grossteil der Schwarzen Bevölkerung lebt, Zielscheibe der staatlichen Gewalt.» (Anm. der Redaktion: «Schwarz» ist eine politische Selbstbezeichnung und wird in diesem Zusammenhang grossgeschrieben). 

Gemeinsam das System verändern 

Jede Woche trifft sich Magno mit einer Gruppe von fast 40 Jugendlichen in Cabula. Sie diskutieren über Menschenrechte und Antirassismus und lernen, wie sie sich gegen ungerechte Behandlungen gewaltfrei wehren können. Ihre persönlichen Geschichten und Perspektiven verarbeiten sie in Theaterstücken, Podcasts und Gedichten. «Auf diese Weise können wir das System der Gewalt, das uns umgibt, herausfordern und langfristig verändern», ist sich Magno sicher. In diesem Projekt von Odara hat er die Rolle des Multiplikators: Magno  

ist eine wichtige Ansprechperson für die Jugendlichen, hat ein offenes Ohr für ihre Probleme, ermutigt und unterstützt sie. «Als wir die Gruppe gestartet haben, waren junge Menschen dabei, die seit sechs Monaten nicht mehr zur Schule gingen», erzählt er. Die Gruppe habe es dann aber geschafft, sie zu motivieren, den Unterricht wieder aufzunehmen. Indem sie sich füreinander einsetzen, stärken die Projektteilnehmer*innen ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwertgefühl. Dass das funktioniert, zeigt sich auch daran, dass das Projekt zu einem Selbstläufer geworden ist: Die Jugendlichen sind so engagiert, dass sie nun einen Verein gründen und selbstständig Aktionen planen.   

Junge Frauen -Projekt Odara - terre des hommes schweiz
Im Projekt erleben die Teilnehmer*innen ihre Stärke als Gruppe, weil sie gemeinsam etwas bewirken können. Foto: Rafael Martins

Die eigenen Rechte kennen 

Ein wichtiger Teil der Arbeit von Odara ist die Rechtsberatung. Denn in Brasilien sind benachteiligte Gemeinschaften vom Zugang zur Justiz ausgeschlossen. Erst kürzlich wurde ein Jugendlicher Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt. Dank der Menschenrechtsschulung im Projekt wusste er, was zu tun ist und wandte sich an Odara, um juristische Unterstützung zu erhalten. «Das zeigt, um was es uns in diesem Projekt geht», sagt Magno, «dass die Jugendlichen lernen, auf Gewalt adäquat zu reagieren, aus dem Kreislauf der Kriminalisierung ausbrechen und stattdessen in kulturelle und bildende Aktivitäten involviert sind.»  

Odara begleitet auch die Familien von Kindern, die Opfer staatlicher Gewalt wurden, und setzt sich national und international für Gerechtigkeit, Rechenschaftspflicht und Wiedergutmachung ein. «Rassismus zieht sich durch alle institutionellen und gesellschaftlichen Strukturen. Mit dem Verfolgen einzelner Straftaten ist es nicht getan», betont Naiara Leite von Odara. 

©rafaelmartins 36
Im armutsgeprägten Stadtteil Cabula ist die Gewalt gegen Schwarze Jugendliche sehr hoch. Foto: Rafael Martins

Für sich selbst sprechen 

Magnos Gruppe hat 2024 einen Podcast gestartet. In der ersten Episode sprachen die Jugendlichen noch über die Gewalt in Cabula. Aber die soll nicht das dominierende Thema bleiben, erklärt Magno: «Unser Ziel ist es, in den Medien aus der Polizeirubrik in die Kultursparte zu wechseln. Wir wollen zeigen, dass sich die Jugend von Cabula für Kunst, Kultur und Rechte einsetzt. Wir wollen für uns selbst sprechen, anstatt andere über uns sprechen zu lassen.» 

Die Jugendlichen haben durch das Projekt erfahren, welche Kraft sie entwickeln, wenn sie sich zusammentun. So reichten sie beispielsweise Beschwerden bei der Staatsanwaltschaft ein und verschickten Briefe an internationale Organisationen. Für diese Advocacy-Arbeit vernetzten sie sich auch mit Jugendgruppen aus benachbarten Stadtteilen und überwanden einstige Rivalitäten. 

Träumen von einer besseren Zukunft 

«In unserem Kontext ist Träumen sehr schwierig. Es scheint kaum möglich, aus den Bedingungen zu entkommen, denen wir ausgesetzt sind. Doch jetzt beginnen die Jugendlichen, über ihre aktuellen Umstände hinauszudenken und sich eine bessere Zukunft vorzustellen», sagt Magno. Das gemeinsame Träumen und Streben nach Veränderung stärkt die ganze Gemeinschaft von Cabula. Vielleicht ist das bemerkenswerteste Ergebnis der Arbeit mit den Jugendlichen, dass Träume überhaupt möglich werden: Erst wenn eine bessere Zukunft vorstellbar wird, kann sich eine junge Generation mit voller Kraft für ihre Verwirklichung einsetzen.  

Nach oben blättern