Ende Januar 2021 rief die Weltgesundheitsorganisation den internationalen Gesundheits- notstand aus. Mitte März verfügte die Regierung in Tansania die totale Ausgangssperre, die bei Redaktionsschluss Anfang Mai auf unbestimmte Zeit verlängert worden ist. Costantine Nyambajo, der die Projekte von terre des hommes schweiz in Tansania koordiniert, gibt Anfang Mai Auskunft zum Covid-19-Lockdown in seinem Land und erklärt, weshalb wir unsere Gesundheitsarbeit mit jungen Menschen unbedingt aufrechterhalten müssen.
Was ist in diesen Tagen deine Hauptaufgabe vis-à-vis unseren tansanischen Projektpartnern?
Costantine Nyambayo: Wir sind ständig in Kontakt miteinander. Ich gebe ihnen laufend Updates zu den neusten Vorschriften und Anleitungen der Regierung gegen die Ausbreitung von Covid-19 und besorge das Material für ihre lokalen Hygienekampagnen. Im Büro sind wir flexibler als sonst. Unsere Angestellten können sich neben der Arbeit Zeit nehmen für ihre Familien in dieser schwierigen Situation.
Was bedeutet der Lockdown für die Arbeit unserer lokalen Partner?
Sie können ihre Arbeit nicht mehr wie im bisherigen Rahmen verrichten, da zum Beispiel Workshops in Jugend-klubs und an Schulen oder die direkte persönliche Beratung von Jugendlichen verboten sind. Die Ausgangssperre der Regierung ist für alle verbindlich. Das gibt uns wenig Spielraum.
Man wartet, bis der «Spuk» vorbei ist?
Keineswegs, denn dann würden wir zulassen, dass junge Menschen – auch jene in akuter Not unabhängig von Covid-19 – völlig allein gelassen sind. Wir passen uns vielmehr an die Krisensituation an. Unsere Leute – Angestellte und Freiwillige, Schul- und Gemeindeleitende oder Eltern und jugendliche Peer-Educators – benutzen die verfügbaren Kommunikationskanäle für Aufklärung, Information und Hilfe zum Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (Sexual and Reproductive Health and Rights, SRHR) einerseits und der damit verbundenen geschlechtsspezifischen Gewalt (Gender-Based Violence, GBV) andererseits.
Ein bewährter Arbeitsschwerpunkt von terre des hommes schweiz.
Genau. SRHR und GBV sind zentral für die körperliche Gesundheit, das psychische Wohlergehen und die längerfristigen Lebensperspektiven von jungen Menschen in Tansania. Wir haben darin grosse Erfahrung und Expertise und müssen dieses Engagement jetzt unbedingt fortführen – alles andere wäre unverantwortlich. Im Moment kommen einfach vorbeugende Massnahmen gegen das Coronavirus dazu. Wir haben Handseifen, Desinfektionsmittel und Wassereimer organisiert, die wir über unsere Multiplikatorinnen und Multiplikatoren an die Jugendlichen und ihr soziales Umfeld verteilen.
Über welche Kanäle kommuniziert ihr mit den Jugendlichen, wenn der direkte Kontakt verboten ist?
Die Begleitung von Jugendlichen in einer Krise läuft über das Telefon. Unsere Partnerorganisation KIVIDEA in Kigoma am Viktoriasee macht zum Beispiel Radioprogramme, zum einen für die Bewusstseinsbildung in den Gemeinden und zum anderen speziell für Jugendliche und junge Erwachsene. Das Jugendprogramm machen die Jungen selbst, sie werden dabei von unseren Mitarbeitenden und Gesundheitsfachleuten unterstützt. Die Radiosendung ist interaktiv aufgezogen, man kann ins Studio anrufen oder seine Fragen mit dem Smartphone schicken.
Kommen auch Social Media-Applikationen zum Einsatz?
Klar. Facebook, Instagram und Whats-App sind extrem wichtig im Lockdown, so auch die Gruppenchats unter Jugendlichen nach dem Peer-to-Peer-Prinzip. In dieser jugendgerechten, agilen Hilfe zur Selbsthilfe waren wir schon vor der Corona-Krise stark. Allerdings erreichen wir auf diesem Weg nicht alle Ju-gendlichen, denn viele haben kein Mobiltelefon oder kein Internet zu Hause. Das ist ein grosses Problem.
Es droht eine schlimme globale Rezession wegen der Corona-Pandemie. Was bedeutet das für die Bevölkerung in Tansania?
Für die grosse Mehrheit der Menschen und auch für «unsere» Jugendlichen in einer prekären Situation steht noch viel mehr auf dem Spiel – es geht ums nackte Überleben. Ein gesunder Mensch kann zur Arbeit gehen und so wesentlich zum Einkommen seiner Familie beitragen. Wird er krank, droht ihm und seiner Familie der Hunger. Die Corona-Krise trifft die Schwächsten in der Gesellschaft am meisten. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in Tansania ist schlecht, die Qualität ungenügend und leisten können es sich ohnehin nur die Privilegierten. Unser Gesundheitssystem ist armselig und überhaupt nicht gewappnet für Krisen. Die Kapazitäten der Versorgung durch die öffentliche Hand werden nicht ausreichen und es gibt ohnehin einen Mangel an qualifiziertem Gesundheitspersonal und medizinischen Geräten.
Die Corona-Pandemie wird sich mit Sicherheit auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit von jungen Menschen in unseren Projektregionen im Nordwesten und Westen von Tansania auswirken. Es wird sehr schwierig sein, ihnen zu helfen.
Welches sind die weiteren Gründe neben der Tatsache, dass viele Jugendliche in Armut auf dem Land nicht über die digitalen Kanäle erreichbar sind?
Sind zum Beispiel die Gesundheitszentren und Kliniken mit Covid-19-Behandlungen ausgelastet, haben Patienten mit anderen Bedürfnissen keine Chance auf Behandlung. Ich mache mir wirklich grosse Sorgen. Es deutet alles darauf hin, dass die Gesundheitsbedrohung der Corona-Pandemie enorm sein wird. Sie wird bestehende Ungleichheiten bezüglich Alter und Geschlecht verstärken. Die sexuelle Gewalt gegen Minderjährige und vor allem gegen Mädchen und Frauen wird zunehmen. Wir müssen mit mehr Vergewaltigungen rechnen und in der Folge mit mehr Teenager-Schwangerschaften.
Viele Jugendliche kennen die grundlegendsten Verhaltenregeln im Umgang mit ihrer eigenen Sexualität nicht. Sie haben ungeschützten Sex oder wehren sich nicht gegen Übergriffe. Weshalb lässt die tansanische Gesellschaft dies zu?
Sex und Sexualität bleiben Tabuthemen, insbesondere in den ländlichen Regionen sowie in sozialen Randgruppen. Die durchschnittlichen Kenntnisse zu sexueller Gesundheit, sicherem Geschlechtsverkehr, Fortpflanzung und sexuellen Rechten sind tief. Die Sexualkunde in den Schulen und den meisten Familien fehlt. Kulturelle und religiöse Werte und Normen etwa die Beschneidung von Mädchen, verunmöglichen eine offene Diskussion zu diesen Themen. Sie sorgen dafür, dass Kinder und Jugendliche nicht oder falsch informiert sind über ihre sexuelle Gesundheit und Rechte.
Studien zeigen: Minderjährige in Tansania machen sexuelle Erfahrungen lange bevor sie das 15. Lebensjahr erreicht haben. Vor allem Mädchen sind extrem gefährdet, schwanger zu werden und beim ungeschützten Geschlechtsverkehr mit sexuell übertragbaren Krankheiten angesteckt zu werden. Das hat negative Konsequenzen für ihr ganzes weiteres Leben. Eltern, Betreuungspersonen, Lehrerinnen und religiöse Führer. Selbst Gesundheitsfachleute haben alle ihren Anteil an dieser verheerenden Praxis.
Gesundheitsfachleute?
Viele Gesundheitsmitarbeitende haben grundsätzliche Vorurteile gegen hilfesuchende Teenager und nehmen sie und ihre Anliegen nicht ernst. Untersuchungen zeigen, dass nur ein Drittel der Gesundheitsservices in Tansania jugendfreundlich sind. So kommt es, dass Hilfesuchende keine Verhütungsmittel erhalten, keinen HIV-Test machen können und nicht gegen sexuell übertragbare Krankheiten wie zum Beispiel Tripper behandelt werden. Es gibt sogar die begründete Angst unter Jugendlichen vor dem sexuellen Missbrauch durch Mitarbeitende in den Zentren.
Die Erkenntnis ist nicht neu, dass es schlecht steht um die sexuelle Gesundheit von Jugendlichen in Tansania. Deshalb ist ja die Arbeit unserer Partnerorganisationen derart wichtig und muss auch während der Coronakrise unbedingt gewährleistet sein! Es gibt Entwicklungen, die mich hoffnungsvoll stimmen – die modernen Kommunikationsmittel sind sicher eine grosse Chance, denn durch sie können immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene an seriöse Informationen gelangen. Doch die archaischen Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht halten sich hartnäckig. Sie verhindern eine gesunde Entwicklung.
Wie tragen die Projekte von terre des hommes schweiz am Viktoriasee und am Tanganjikasee zur guten Entwicklung von Jugendlichen in Tansania bei?
Jugendliche sind in der Pubertät. Sie befinden sich an einer Wegkreuzung in ihrem Leben und die Themen der Sexualität interessieren sie sehr. Die meisten jungen Menschen, denen ich begegne, orientieren sich an Gleichaltrigen. Viele kommunizieren über Social Media, lesen Tageszeitungen oder schauen TV. Im Projekt KIVIDEA arbeiten wir über verschiedene Kanäle und mit vielfältigen niederschwelligen Aktivitäten mit den Jugendlichen.
Egal, was wir tun, im Zentrum stehen immer ihre Bedürfnisse und Anliegen. Das unterscheidet uns von anderen Organisationen. Die Aufklärung zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit und den Rechten, kombiniert mit Trainings, um im Alltag klug damit umzugehen, hilft Jugendlichen, informierte Entscheidungen für ihr eigenes weiteres Leben zu treffen. Mündige und informierte junge Frauen und Männer führen den Wandel zu einer gerechteren Welt herbei.
Interview: Anna Wegelin