Im vergessenen Konflikt um die Westsahara gibt es zwar ein Jubiläum, aber keinen Grund zum Feiern. Die meisten Sahrauis leben noch immer in Flüchtlingslagern oder unter marokkanischer Besatzung. Die Situation ist wieder sehr kritisch.
Vor 30 Jahren sah es in der Westsahara nach einem Durchbruch aus. 1991 unterzeichneten die Konfliktparteien Frente Polisario, die Befreiungsbewegung der Sahrauis, und die Besatzungsmacht Marokko ein durch die UNO vermitteltes Waffenstillstandsabkommen. Damit wurde ein 16 Jahre dauernder bewaffneter Konflikt beendet.
Teil des Abkommens war es, dass ein Referendum zur Selbstbestimmung des sahrauischen Volkes durchgeführt wird. Die Sahrauis sollten selbst bestimmen können, ob sie künftig einen unabhängigen Staat Westsahara haben oder zu Marokko gehören wollten. Die ehemalige spanische Kolonie Westsahara wurde 1975 von Marokko besetzt. Der Internationale Gerichtshof kam in seiner Untersuchung im selben Jahr zum Schluss, dass Marokkos territorialen Ansprüche auf das Gebiet historisch nicht gerechtfertigt seien.
Hoffnung auf eine Rückkehr
Beim Abkommen von 1991 wurde die UNO-Friedensmission Minurso in der Westsahara stationiert. Ihre Aufgabe war es, den Waffenstillstand zu überwachen und das Referendum zu organisieren. Man rechnete mit der Durchführung im Folgejahr.
Die Sahrauis waren guter Dinge. Sie lebten seit 1975 unter marokkanischer Besatzung, waren im Krieg gegen die Besatzungsmacht oder harrten in Flüchtlingslagern in der algerischen Wüste aus. Die Menschen in den algerischen Lagern hatten die Hoffnung, bald in die Westsahara zurückkehren zu können.
Inzwischen ist aus dem damaligen Verhandlungserfolg der Vereinten Nationen ein seit 30 Jahren ungelöster, zermürbender Konflikt geworden. Gemäss dem UNO-Flüchtlingshilfswerk leben 174 000 Sahrauis unter extremen klimatischen Bedingungen in den Lagern in Algerien. Sie sind abhängig von internationalen Hilfslieferungen und zum Nichtstun verdammt.
Im besetzten Gebiet der Westsahara sind etwa ebenso viele Menschen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, die von NGOs und UNO-Stellen dokumentiert sind. Die besetzte Westsahara gilt als «schwarzes Loch der Information», die Zensur ist rigoros. Tourist*innen sind willkommen, Menschenrechtsbeobachter*innen und Medienschaffende werden sofort ausgewiesen.
Marokko bleibt kompromisslos
Marokko hat inzwischen klargemacht, sich nicht mehr an die ursprüngliche Abmachung aus dem Jahr 1991 halten zu wollen. Das Königreich akzeptiert keine Abstimmung mehr, in der die Unabhängigkeit der Westsahara zur Wahl steht. Lediglich ein Autonomiestatus soll noch eine Option sein. Die Frente Polisario hingegen beharrt auf der Umsetzung der ursprünglichen Vereinbarung von 1991.
Fast wie ein Krieg
Die Lage ist aktuell wieder besonders angespannt. Im letzten November eskalierte die Situation, als marokkanisches Militär in die südliche UNO-Pufferzone an der Grenze zu Mauretanien einmarschierte und auf Leute schoss. Sie wollten eine Strasse räumen, die sahrauische Aktivist*innen blockierten.
Die Sahrauis protestierten damit gegen den Transport von illegal ausgebeuteten Ressourcen, die von der Westsahara via diese Strasse über die Südgrenze transportiert werden – etwa Tomaten, Melonen und neuerdings auch Blaubeeren und Fisch. Da das Militär in dieser Pufferzone laut Waffenstillstandsabkommen untersagt ist, erklärte die Polisario ihrerseits den Waffenstillstand für beendet. Seit letztem Spätherbst herrscht dort eigentlich Krieg, auch wenn bis zum Redaktionsschluss kaum wirkliche Kampfhandlungen stattgefunden haben.
Auf Konfrontationskurs
Im Powerplay der geopolitischen Interessen haben die Sahrauis die schwächeren Karten und Marokko geht zunehmend auf Konfrontationskurs. Im März dieses Jahres brach das Königreich den diplomatischen Kontakt mit Deutschland ab. Deutschland hatte Ende 2020 als Noch-Mitglied des UNOSicherheitsrats eine Sitzung zum Thema Westsahara einberufen. In der Sitzung wurde die Anerkennung der marokkanischen Besitzansprüche an die Westsahara durch die USA besprochen. Ein Bruch der UNO-Position, die bis dahin jedes Land respektiert hatte – und eine der letzten bizarren Amtshandlungen des ehemaligen US-Präsidenten Trump im Dezember 2020.
Flüchtlinge als Druckmittel
Diesen Mai folgte dann eine unmissverständliche Drohung an die europäischen Länder in einer anderen Sache: Marokko setzte die Grenzkontrollen zur spanischen Exklave Ceuta in Nordafrika aus. Tausende versuchten daraufhin, von Marokko auf spanischen Boden nach Ceuta zu gelangen. Mit ihrer Aktion brachte das marokkanische Königreich seinen Ärger zum Ausdruck, dass sich der Präsident der Polisario, Brahim Ghali, in einem spanischen Spital behandeln liess.
Es ist nicht das erste Mal, dass Marokko Flüchtlinge als Druckmittel gegen Europa benutzt. Bereits 2017 öffnete das Königreich die Grenzen zu Ceuta und Melilla als Reaktion auf ein Urteil des Obersten Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Der EuGH urteilte, dass das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Marokko nicht auf die Westsahara anwendbar sei, da diese einen «gesonderten und unterschiedlichen Status» habe.
Ausharren im Flüchtlingslager
Am 29. September werden erneut zwei Urteile des EuGH zum Freihandels- und Fischereiabkommen mit Marokko erwartet, die voraussichtlich in dieselbe Richtung gehen. Während die Besatzungsmacht also die einen Flüchtlinge als Spielball benutzt, sorgt Marokko andererseits dafür, dass die sahrauischen Flüchtlinge 30 Jahre nach dem Waffenstillstandsabkommen weiterhin in den Lagern in der algerischen Wüste ausharren müssen.
Entwicklungen gab es Mitte dieses Monats bei der UNO. Nach langen Verhandlungen hat nach der Polisario nun auch Marokko den Italo-Schweden Staffan de Mistura als neuen Sondergesandten für die Westsahara akzeptiert. Der Posten war seit dem Rücktritt von Horst Köhler im März 2019 verwaist. Der ehemalige deutsche Bundespräsident brachte die Konfliktparteien zwar seit langem wieder für zwei Runden an den Verhandlungstisch, allerdings ohne Annäherung und Ergebnis. Ob es dem erfahrenen Diplomaten und Vermittler de Mistura gelingt, tatsächlich Bewegung in den verfahrenen Konflikt zu bringen, wird sich zeigen. Derweil wächst wieder eine Generation junger Sahrauis in den Flüchtlingslagern in der Wüste auf.
Sylvia Valentin, Entwicklungspolitische Kampagnen