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Samira Marti, Nationalrätin SP BS

Abgewiesene Asylsuchende: «Nothilfe eine Sackgasse»

Welches sind gute Lösungen für Menschen mit rechtskräftig abgewiesenem Asylgesuch in der Nothilfe? Zu dieser Frage diskutierten am 11. November fünf Fachpersonen aus Politik, Behörden und Zivilgesellschaft auf Einladung von terre des hommes schweiz in Basel. Der Bericht zur Veranstaltung mit Video-Livestreaming.

Menschen fliehen oftmals vor Krieg, Gewalt und Armut. Wird ihr Asylgesuch abgelehnt und haben sie einen rechtsgültigen Wegweisungsentscheid, müssen sie laut Gesetz die Schweiz verlassen. Doch viele tun es nicht und manche könne es nicht, weil sie aus «vollzugsschwierigen» Ländern wie Eritrea, China beziehungsweise Tibet und Algerien kommen.

«Manche werden über Jahre hinweg ‘parkiert’ und bleiben in einer prekären Abhängigkeit vom Staat», sagte Sylvia Valentin von terre des hommes schweiz zu Beginn der Podiumsveranstaltung mit dem Titel «Abgewiesene Asylsuchende in der Nothilfe: wie weiter?». «Nothilfe verhindert die Integration», so die Veranwortliche für Migrationsfragen bei der Entwicklungsorganisation.

Die Veranstaltung zum Nothilferegime

Auf Einladung von terre des hommes schweiz diskutierten am 11. November 2020 im Salon der Markthalle Basel fünf Persönlichkeiten aus Politik, Behörden und Zivilgesellschaft über mögliche gute Lösungen für Asylsuchende mit Negativentscheid in der Nothilfe: Dieter von Blarer, Jana Häberlein, Claudio Martelli, Samira Marti und Andreas Räss. Als Grundlage diente ein Bericht zur Situation von Nothilfebeziehenden (PDF) in der Schweiz mit Fokus auf die Situation in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft. Verfasst hat ihn die Sozialwissenschaftlerin Jana Häberlein für terre des hommes schweiz.

Seit 2008 erhalten abgewiesene Asylsuchende nur noch Nothilfe und nicht mehr Asylsozialnothilfe. Laut Bundesverfassung soll die minimalen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die für ein «menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind», also zu einem deutlich tieferen Ansatz als die Sozialhilfe und Asylsozialhilfe. Als unerlässlich gelten Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, medizinische Grundversorgung oder Obdach.

2019 erhielten nach Angaben des Staatsekretariats für Migration (SEM) 6784 Personen mit einem negativen Asylentscheid in der Schweiz Nothilfe. 2272 Personen gehörten im vierten Quartal 2019 zu den Langzeitnothilfebeziehenden (LAB), was man nach einem Bezugsjahr wird.

Der Bericht von terre des hommes schweiz

Jana Häberlein – Sozialwissenschafterin und Lehrbeauftragte, Studienautorin
Jana Häberlein – Sozialwissenschafterin
und Lehrbeauftragte, Studienautorin

«Mit der Nothilfe ein Leben in Würde zu bestreiten, ist fast unmöglich», sagte Studienautorin Jana Häberlein an der Veranstaltung. Das System sei als «kurzzeitige Massnahme» konzipiert worden ‒ und bedeute für «Tausende von Menschen ein Verharren unter menschenunwürdigen Bedingungen, über Jahre hinweg».

Der 36-seitige Bericht wirft ein exemplarisches Schlaglicht auf das Nothilfesystem in BS und BL unter Einbezug der gesamtschweizerischen Lage anhand der Themen Obdach oder Unterbringung, Bildung und Arbeit. Dazu hat die Autorin auch mit den Betroffenen selbst gesprochen sowie mit Berufsleuten, die zum Beispiel in Asylunterkünften arbeiten.

Es gibt in der Schweiz keinen einheitlichen Standard für die Unterbringung von Nothilfebeziehenden. Sie leben in Kollektivunterkünften und Wohnungen, bei Gastfamilien oder in der Notschlafstelle. «Es braucht bessere Unterbringungsbedingungen, wo es keine nationalen Minimalstandards gibt», so Jana Häberlein. So sollte es in Basel-Stadt keine Unterbringung in Notschlafstellen geben und in Baselland sollte die Unterbringung in Asylwohnungen, besonders für Kinder und ihre Familien, ausgebaut werden, lautet ihre Empfehlung.

Einer Erwerbsarbeit nachzugehen, ist nach dem Schweizer Ausländergesetz grundsätzlich verboten. «Langzeitnothilfebeziehenden muss der Zugang zum legalen Arbeitsmarkt gewährt werden», sagte Jana Häberlein, die sich dabei auch auf eine Studie der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM) von 2019 abstützte.

Als Ergebnis des Arbeitsverbot würden abgewiesene Asylsuchende oftmals über Jahre Nothilfe beziehen, was für sie eine «nicht absehbare Zeit des Wartens» bedeute und für den Staat Kosten verursache, erklärte sie: «Diese Verschwendung von Humankapital und individuellen Lebensplänen muss aus einer gesundheitlichen, menschenrechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektive deutlich kritisiert werden.» Wenn Menschen im Langzeitnothilfebezug verweilen, weil sie nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, sollten sie dringend die Chance erhalten, am Arbeitsmarkt teilzunehmen, sagte sie.

Die Themen der Podiumsdiskussion

In der von Moderatorin Inés Mateos geführten Podiumsdiskussion ging es im ersten Teil um Ermessensspielräume zwischen Gesetz und Realität und im zweiten Teil um die Politik.

Für regen Gesprächsstoff sorgte das Thema (Erwerbs)Arbeit und Beschäftigung, die oftmals zermürbende Zeit des Wartens im Langzeitnothilfebezug (LAB) bis zur Härtefallregelung für Menschen aus dem Asylbereich nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz. Es ging weiter um den Zugang zu Integration und um die Beweisführung von Identität, um das «Dilemma» zwischen Vollzug und individueller Einzelfallbegleitung sowie das «Hin und Her» zwischen den Kantonen und der Bundesverwaltung, eine Eigenart des föderalistischen Systems in der Schweiz.

Die Voten der Podiumsgäste

Dieter von Blarer
Dieter von Blarer – Advokat und Präsident humanrights.ch

Dieter von Blarer ist Anwalt im Migrationsbereich und Präsident von Humanrights.ch. Er weiss aus eigener Erfahrung: Erhalten Asylsuchende in einem ausserordentlichen Verfahren Zugang zu einer Arbeit, zum Beispiel ein Praktikum, «verändert sich ihr Selbstbewusstsein massiv», sagte er. Die «unstrukturierte Arbeitslosigkeit» stärke Asylsuchende in der Nothilfe nicht und verhindere ihre Integration. Sie sei jedoch eine Voraussetzung dafür, damit ein Härtefallgesuch bewilligt werde, so Dieter von Blarer: «Wie weit kann man gehen, um die Leute vom Arbeitsplatz fernzuhalten, um migrationsrechtliche Fragen des Staates durchzusetzen? Und wann setzen die Menschenrechte der Individuen ein, dass sie nämlich Zugang zur Arbeit haben sollten?» Für ihn steht fest: «Es ist strategisch falsch, die Ausländerpolitik mit der Arbeitspolitik zu verknüpfen.»

«Für eine Härtefallbewilligung muss die Identitätsfrage zwingend geklärt sein», sagte Claudio Martelli, Vizedirektor SEM und Leiter des Direktionsbereichs Asyl. Er zeigte Verständnis dafür, dass die Betroffenen in einer schwierigen Situation seien. Dem SEM obliege die Rolle des Gesetzgebers, der die Härtefallgesuche von abgewiesenen Asylsuchenden  «mit Sorgfalt» prüfe, so Claudio Martelli. Würden jedoch Personen bei der Erstellung ihrer Identität nicht kooperieren und sich zum Beispiel nicht darum bemühen, von der Botschaft ihres Landes ihre Identitätspapiere zu erhalten, könne das Gesuch nicht bewilligt werden, selbst wenn sich das SEM bewusst sei, dass dies «eine grosse Tragweite für die Betroffenen» habe, sagte er.

Claudio Martelli
Claudio Martelli
Vizedirektor SEM, Leiter Direktionsbereich Asyl

«Vollzug ist letztlich eine Sache der Kantone», so Andreas Räss, Leiter des Amts für Migration und Bürgerrechte Basel-Landschaft. Jeder Fall präsentiere sich anders. In BL sei die Einzelfallprüfung an der Tagesordnung und man sei deshalb in der komfortablen Lage, alle Betroffenen zu kennen. «Wir können uns jedoch nicht frei bewegen, sondern es gibt Rahmenbedingungen von Bund, Rechtssprechung und Politik», so Andreas Räss. Er sprach dabei von einem «Dilemma» für eine kantonale Behörde: «Auf der einen Seite wollen wir für eine gute Integration sorgen und auf der anderen Seite sollten wir den Aufenthalt für abgewiesene Asylsuchende so unattraktiv wie möglich gestalten und dann trotzdem für die Regelung wiederum erwarten, dass die Menschen gut integriert sind.»

Andreas Räss Leiter Amt für Migration und Bürgerrechte BL
Andreas Räss
Leiter Amt für Migration
und Bürgerrechte BL

Über 80 Prozent der Härtefallgesuche, die der Kanton BL beim SEM einreiche, würden bewilligt, berichtete er. Die gesetzlichen fünf Jahre, bevor man ein Härtefallgesuch in Bern einreichen könne, seien eine «sehr lange Zeit, vor allem für Kinder und Jugendliche in Bildung», so Andreas Räss. In Baselland setze man deshalb viel schneller ein Härtefallgesuch an, wenn Kinder betroffen sind, «weil hier die Zukunftsperspektive massgebend ist», sagte er: «Junge Menschen bleiben lange hier und sollen auch eine Chance haben, ihr Leben konstruktiv zu nutzen.»

Klartext sprach schliesslich SP-Nationalrätin Samira Marti, von Beruf Ökonomin. Die Nothilfe sei «eine Sackgasse» und als Übergangslösung konzipiert worden. «Wir dürfen nicht Gesetze schreiben, die in der Realität nicht greifen», sagte sie mit Blick auf die Langzeitnothilfebeziehenden. «Die Verknüpfung des Arbeitsrechts mit der Sozialpolitik ist unzulässig», meinte sie. Sie erwarte deshalb Anpassungen von den Gesetzgebern.

Samira Marti, Nationalrätin SP BS
Samira Marti, Nationalrätin SP Basel-Stadt

Es gehe nicht an, bei den Härtefallgesuchen «alle Menschen über einen Kamm zu scheren», sagte sie an die Adresse des SEM gerichtet. Jeder einzelne Fall müsse geprüft werden. «Wenn wir nach 15 Jahren Nothilferegime erkennen, dass es für die meisten Menschen nicht funktioniert und Ausschaffungen nicht umgesetzt werden können, ist es notwendig, dass die Anzahl Härtefallgesuche ansteigen muss», so die linke Parlamentarierin. Alles andere sei eine «Korrektur der Gesetzgebung durch die Bundesverwaltung». «Es gibt noch viel zu tun», lautete ihr Fazit.

Lösungsansätze mit Reality Check

Sylvia Valentin von terre des hommes schweiz beschloss die anregende Podiumsdiskussion mit der Bemerkung, der Bericht und die Veranstaltung zeigten: «Es gibt Lösungsansätze, mit der die Situation der Betroffenen verbessert werden kann.» Dazu brauche es den Willen aller Beteiligten, sagte sie, «und den systematischen Reality Check, ob abgewiesenen Asylsuchenden in der Nothilfe tatsächlich jenes menschenwürdige Dasein gewährt wird, das ihnen gesetzlich zusteht».

Was wir fordern

«Asylsuchende in der Nothilfe sollen eine Erwerbsarbeit verrichten können, die Schule besuchen oder eine Lehre machen und in einer menschenwürdigen Unterkunft wohnen», sagt Sylvia Valentin, Migrationsverantwortliche bei terre des hommes schweiz.

terre des hommes schweiz fordert:

  • Es braucht Lösungen, die den Betroffenen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und die auch sozialpolitisch und volkswirtschaftlich mehr Sinn machen als das jetzige System.
  • Es müssen schnell pragmatische Lösungen innerhalb der bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten gefunden werden. Längerfristig ist jedoch eine Änderung der gesetzlichen Vorgaben wünschenswert.
  • Das System der Nothilfe muss der Realität der sie beziehenden Menschen gerecht werden.
  • Die Grundhaltung gegenüber abgewiesenen Asylsuchenden in der Nothilfe muss ändern.
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