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Corona: «Wir haben es in der Hand»

Die Corona-Krise greift immer mehr um sich. Noch konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf Infektionen und Todesraten im Zusammenhang mit Covid-19 auf den europäischen Raum. Doch die internationalen Dimensionen des gefährlichen Virus treten langsam zutage. terre des hommes schweiz-Programmleiterin Gabriela Wichser gibt Auskunft zur Situation in den südlichen Partnerländern und erklärt, weshalb die Krise auch eine Chance birgt.

Die Schweiz ist im Krisenmodus. Was beschäftigt Sie momentan am meisten?

Wie uns alle, fordert auch mich die aktuelle Situation privat stark heraus. Viel mehr beschäftigt mich aber die Situation der Menschen in jenen Ländern des globalen Südens, in denen wir mit lokalen Partnerorganisationen zusammenarbeiten, also im südlichen Afrika und in Lateinamerika. Mich beschäftigt insbesondere, welche Konsequenzen die Coronavirus-Epidemie für die Ärmsten der Armen in der Welt haben wird.

Bei terre des hommes schweiz fragen wir uns: Welche neuen Bedürfnisse schafft die Krise in unseren Partnerländern und mit welchen Massnahmen können wir als Schweizer Organisation zusammen mit unseren Partnern einen Beitrag an die Gesundheit und Perspektiven von Jugendlichen und ihren Familien leisten?

Wie gehen Sie dabei vor?

Wir sind im ständigen Kontakt mit unseren Koordinationsbüros in den Projektländern und mit den lokalen Partnerorganisationen, um uns möglichst rasch ein seriöses Gesamtbild der Situation vor Ort zu machen. Hier stehen wir erst am Anfang und wir können uns leider nicht nur auf offizielle Informationen der Regierungen jener Länder verlassen.

Wir wollen wissen: Sind die Schulen geschlossen? Fahren die Busse? Hat die Regierung die Bevölkerung zu Hygienemassnahmen aufgerufen? Sind die staatlichen Informationen transparent und glaubwürdig oder wird die Gesundheitssituation heruntergespielt?

Einzelne Projekte haben wir bereits stoppen müssen oder wir haben die Aktivitäten heruntergefahren, so zum Beispiel in Peru, wo die Coronavirus-Fallzahlen aktuell steigen und das Land wie die Schweiz im Lockdown-Modus ist. Die Schulen sind geschlossen und der öffentliche Verkehr ist beeinträchtigt. Die meisten Geschäfte sind zu und die Menschen sind angehalten, daheim zu bleiben.

Welches werden die nächsten Schritte sein nach der Situationsanalyse?

Wir sind daran, einen Aktionsplan zu entwickeln. Zuerst braucht es Sicherheitsmassnahmen für unsere nationalen Koordinationsbüros, zum Beispiel Stellvertretungen und Homeoffice und zwar so, dass wir auch unter den neuen Umständen ständig in Kontakt miteinander bleiben können.

terre des hommes schweiz arbeitet im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit im südlichen Afrika. Die HIV/Aids-Raten sind in dieser Weltregion nach wie vor besorgniserregend hoch. Was bedeutet es, wenn die Coronavirus-Pandemie Länder wie Tansania oder Simbabwe trifft?

Dies wäre katastrophal, denn das Gesundheitssystem im südlichen Afrika und auch in Lateinamerika ist nicht mit dem Schweizer Gesundheitswesen zu vergleichen. Nehmen wir zum Beispiel Mosambik: Ein Jahr nach dem Zyklon Idai leben immer noch sehr viele Menschen in Notunterkünften und auf engem Raum miteinander. Wie soll man da Social Distancing wahren?

Die Mehrheit der Menschen im südlichen Afrika hat einen schlechten Zugang zum Gesundheitssystem. Es gibt viel zu wenig und zu wenig gut ausgebildetes Gesundheitspersonal. Vielen Gesundheitseinrichtungen fehlt es am Grundlegendsten, an Strom, moderner Infrastruktur und Material. Viele Menschen haben überhaupt keinen Zugang zum Gesundheitssystem.

Sollten in unseren Partnerländern viele Menschen ernsthaft erkranken, werden in jedem Fall die Kapazitäten fehlen, um sie zu behandeln. Es gibt im südlichen Afrika nur sehr wenige Intensivstationen. Auch ist das Informationssystem fragil in Ländern, die mit verbreiteter Korruption kämpfen und in denen Gewalt an der Tagesordnung ist. Nehmen wir Simbabwe und Nicaragua: Beide Regierungen vermelden bis jetzt keine Fälle von Infektionen mit dem Coronavirus. Hier haben wir den Eindruck, dass der Staat die Gefahr herunterspielt.

Wie schätzen Sie die wirtschaftlichen Folgen ein für Entwicklungsländer und -regionen, die vom Coronavirus betroffen sind oder sein werden?

Es ist im Moment nicht abzuschätzen, was alles noch auf uns zukommen wird. Doch eine wirtschaftliche Krise in den Industrieländern wird die Länder im südlichen Afrika oder in Lateinamerika, die ja auch internationale Handelsbeziehungen haben, doppelt treffen. Wahrscheinlich ist: Wir werden zuerst unser eigenes System wieder stärken, bevor wir in Länder des globalen Südens investieren. Diese wiederum werden zusätzlich geschwächt sein durch die Pandemie im eigenen Land.

Ein weiterer Punkt ist: Im südlichen Afrika lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung von der informellen Wirtschaft. Sie bauen ihr eigenes Gemüse an, das sie auf dem Markt verkaufen oder sie verdienen ein Einkommen mit einem Essenstand am Strassenrand. Eine Absicherung gegen Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe haben sie nicht.

terre des hommes schweiz arbeitet für und mit Jugendlichen. In der Adoleszenz kann man ganz schön beratungsresistent sein. Wie wollen Sie Jugendliche im südlichen Afrika und in Lateinamerika als Vorbilder im Kampf gegen die Ausbreitung der Epidemie und ihre Folgen gewinnen?

Genau, es nicht einfach, jungen Menschen glaubhaft zu machen, dass sie zu Hause bleiben sollen anstatt sich mit Freundinnen und Freunden zu treffen. Durch unsere jahrelange Erfahrung in der Jugendarbeit wissen wir, wie man gut und wirksam mit jungen Menschen auf Augenhöhe zusammenzuarbeitet. Dabei setzen wir auf den Peer-to-peer-Ansatz, also wenn sich Jugendliche mit Jugendlichen austauschen. Dieser jugendgerechte Ansatz, der lapidar erscheinen mag, kann eine grosse Stärke sein in einer Krisensituation.

Zum Schluss: Es ist schwierig zu wissen, wie wir Gutes tun können in der jetzigen schwierigen und komplexen Situation. Was ist Ihr Rat?

Es ganz wichtig, dass wir in der Schweiz die behördlichen Massnahmen befolgen. Gemeinsam haben wir es in der Hand. Wenn wir uns an die Anweisungen halten und uns solidarisch zeigen mit unseren Mitmenschen nah und fern, können wir die Krise zusammen meistern. Wir müssen solidarisch sein, insbesondere mit älteren Menschen und mit jenen, die zur Risikogruppe gehören oder krank sind. Wir können für andere einkaufen gehen oder unsere Grossmutter anrufen und fragen, wie es ihr geht.

Doch die Solidarität und Unterstützung hört nicht an der Schweizer Grenze auf, sondern ist ein gemeinsamer Lernprozess für eine gesunde und gerechte Welt.

In unser langjährigen Arbeit stärken wir Jugendliche und lokale Gemeinschaften. Dabei geht es oft gerade um jene Werte, die momentan Hochkonjunktur bei uns haben: Solidarität und gegenseitiges Aushelfen in der Nachbarschaft. Es ist überwältigend zu sehen, was alles an Mitmenschlichkeit um uns herum geschieht. Das bestärkt mich im Eindruck, dass diese grosse Krise im Kleinen auch Positives bewirken kann.

Interview: Anna Wegelin

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