Medienmitteilung – Abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz kommen in der Regel ins Nothilfesystem. Hier sind die Bedingungen fast überall menschenunwürdig und gesundheitsschädigend, kritisieren rund 450 Fachpersonen aus Medizin, Psychotherapie und Psychologie. In einem Offenen Brief an die Behörden und Politik sowie an Ämter und Vollzugsorganisationen fordern sie eine humane Behandlung von Asylsuchenden mit Negativentscheid. Unterstützt wird ihr Anliegen von drei Schweizer Non-Profit-Organisationen, die sich für die Würde und das Wohlergehen von Menschen mit Fluchthintergrund einsetzen sowie gegen Rassismus und Diskriminierung.
«Die Situation der Menschen im Nothilfesystem ist alarmierend», sagt Urs Ruckstuhl, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP mit Gemeinschaftspraxis in Zürich. «Viele sind verzweifelt und leiden an psychischen und körperlichen Symptomen. Kinder sind besonders gefährdet. Das Nothilfesystem macht sie krank.»
Urs Ruckstuhl ist Mitautor eines Fachberichts zu den psychischen Gesundheitsfolgen für abgewiesene Asylsuchende im Nothilfesystem und eine von rund 450 Fachpersonen aus Medizin, Psychotherapie und Psychologie, die einen Offenen Brief an die Behörden und Politik sowie an die verantwortlichen Ämter und Vollzugsorganisationen verschickt haben. Darin kritisieren sie die menschenunwürdige und gesundheitsschädigende Praxis des Nothilfesystems und stellen 7 Forderungen für die notwendigen Schritte zur Aufhebung dieses problematischen Systems.
«Praxis entwürdigend und krankmachend»
«Hilfreiche Behandlungsvorschläge kommen in der Nothilfe nicht zum Tragen, eine oft dringend angezeigte Psychotherapie ist meist nicht durchführbar», kritisiert Urs Ruckstuhl das Nothilfesystem. «Das begünstigt den vorschnellen, einseitigen und manchmal sogar missbräuchlichen Einsatz von Psychopharmaka. Die Not wird betäubt.» «Die heutige Praxis des Nothilfesystems muss aufhören», fordert der Gesundheitsexperte: «Sie ist entwürdigend, zermürbend und krankmachend.»
Kinder im Nothilfesystem «besonders gefährdet»
Studien konstatieren bei Geflüchteten sehr hohe Raten an körperlichen und psychischen Erkrankungen. Laut einer im Fachbericht von Urs Ruckstuhl und weiteren sechs Autor*innen zitierten Studie leiden in der Schweiz rund zwei Drittel der abgewiesenen Asylsuchenden an posttraumatischen Belastungsstörungen. 84–92 Prozent haben Depressionen, ein Drittel der Befragten hat Selbstmordgedanken und fast 80 Prozent haben starke körperliche Beschwerden.
Für Kinder und Jugendliche in der Nothilfe kann das System gesundheitlich besonders schädigend sein. Viele sind traumatisiert von Kriegssituationen, abrupten Beziehungsabbrüchen, Hunger, Todesangst der Eltern oder dem Gefühl von Ohnmacht und Ausweglosigkeit.
Das Nothilfesystem: Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben
Asylsuchende, deren Gesuch abgelehnt wird, erhalten seit 2008 die sogenannte Nothilfe. Das Nothilfesystem wurde in der Schweiz eingeführt, um Asylsuchende mit Negativentscheid dazu zu bringen, das Land zu verlassen. Bis dahin soll ihnen die Nothilfe das zum Überleben absolut Notwendige sichern, bis sie die Schweiz wieder verlassen. Je nach Kanton, in dem sich die abgewiesenen Asylsuchenden befinden, beträgt die Nothilfe 7 bis 9 Franken am Tag. Sie erhalten eine Schlafstätte, Krankenversicherung und Sachleistungen wie zum Beispiel eine Zahnbürste oder Hausschuhe.
Asylsuchende im Nothilfesystem leben in extremer Armut und teilweise in menschenunwürdigen Unterkünften – in unterirdischen Bunkern, in Mehrbettenzimmern ohne Privatsphäre. Sie dürfen nicht arbeiten, leben sozial isoliert und der Zugang zu medizinischen Angeboten ist stark eingeschränkt. Dies verstärkt die psychischen und körperlichen Beschwerden der Geflüchteten, die aufgrund ihres Fluchthintergrunds bereits vulnerabel sind und zum Beispiel Angstzustände oder Kopfschmerzen haben, aggressiv werden oder suizidal.
Erst vorletzte Woche kritisierte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter die Lebensbedingungen für abgewiesene Asylsuchende in Rückkehrzentren im Kanton Bern. Auch sie zeigte sich besorgt über die Situation von Kindern und Jugendlichen.
Das Nothilfesystem funktioniert nur bedingt. Es gibt Menschen, die seit fünf bis zehn, manchmal sogar seit 15 Jahren im Nothilfesystem leben, darunter auch viele Kinder. Laut Zahlen des Staatssekretariats für Migration (SEM) lebten 2020 1’061 Kinder in der Nothilfe. 380 dieser Minderjährigen befanden sich Ende 2020 seit über einem Jahr im System.
Podiumsveranstaltung in Zürich
Das National Coalition Building Institute NCBI Schweiz, das Solinetz Zürich und terre des hommes schweiz unterstützen das Anliegen der Fachpersonen aus Medizin, Psychotherapie und Psychologie. Alle drei Organisationen setzen sich für die Würde und Gesundheit von Menschen mit Fluchthintergrund ein und gegen Diskriminierung und Rassismus.
Am 21. März 2022 organisieren die drei NPOs in Zürich eine öffentliche Podiumsveranstaltung zur Problematik des Nothilfesystems.
Links
Offener Brief: https://www.ncbi.ch/wp-content/uploads/Offener-Brief-humane-Behandlung-abg-Asy-Feb22.pdf
Fachbericht: https://www.ncbi.ch/wp-content/uploads/Bericht_Nothilfesystem_Print_ganz_weiss_einzelseiten2.pdf
Podiumsveranstaltung: https://solinetz-zh.ch/-veranstaltungen/
Foto zVg Ursula Markus