Viele junge Menschen mit Fluchthintergrund stehen in der Schweiz unter enormem psychischem Druck. Neben der Fremdenfeindlichkeit, der Unsicherheit, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen, dem Kulturschock und der Sprachbarriere belasten die traumatischen Erlebnisse diese Jugendlichen sehr. Höchste Zeit für ein Power-Up im malerischen Jura. Im Workshop MePower lernen junge Geflüchtete ihre Stärken und Ressourcen kennen und knüpfen neue Kontakte.
Vorsichtig setzt Ava einen Fuss vor den anderen. Eine Stufe hat sie bereits geschafft, jetzt kommt der steile Teil. Sie darf sich nirgends abtasten, so lauten die Regeln. Der jungen Afghanin bleibt nur, sich ganz auf Tushari zu verlassen, die ihr Anweisungen gibt und deren Augen nicht verbunden sind. «Achtung, jetzt kommt noch eine». Ava meistert die Stufen und lässt sich von Tushari aus Sri Lanka in den Garten führen, wo sich die beiden in die Sonne setzen.
Mit der Übung «Blind vertrauen» sollen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen spielerisch ihren Sinn dafür schärfen, was ihnen in solchen Situationen die nötige Sicherheit gibt. «Den meisten war bei diesem Spiel eine gute Kommunikation wichtig», sagt Co-Projektleiterin Sylvia Valentin, «sie mussten wissen, was unmittelbar vor ihnen ist und wie sie sich verhalten müssen». Eine Herausforderung, die Jugendlichen haben unterschiedliche Muttersprachen.
Grosser psychischer Druck
Wie sehr das Spiel dem tatsächlichen Leben gleicht, ist wohl bei allen Teilnehmenden des zweiten MePower-Workshops ein bisschen anders. Sicher ist aber, an Herausforderungen mangelt es den jungen Geflüchteten in der Schweiz nicht: Einschränkungen während des Asylverfahrens, der Umgang mit den Behörden, das Einfinden in der für sie fremden Kultur und nicht zuletzt die Ausgrenzung in der Gesellschaft. Und noch viel gravierender: Sie tragen die Bilder und Eindrücke traumatischer Erlebnisse im Herkunftsland und auf der Flucht ständig mit sich.
Das Bundesamtes für Gesundheit (BAG) rechnet, dass 50 bis 60 Prozent der Asylsuchenden an Traumafolgestörungen leiden. Fast jede dritte Person leide unter Posttraumatischen Belastungsstörungen, jede dritte Person unter Depressionen und eine überwiegende Mehrheit unter chronischen Schmerzen, schreiben die Psychologinnen und Psychologen vom Netzwerk Psy4Asyl.
In der Schweiz gibt es aber zu wenig psychotherapeutische Angebote. Die Folgen von unbehandelten psychischen Problemen wirkten sich negativ auf die soziale und berufliche Integration der Migrantinnen und Migranten aus, wo sie hohen Anforderungen gegenüberstünden, so Psy4Asyl weiter. Das verursacht langfristig zusätzliche Kosten.
Bei vielen jungen Menschen kommt der Verlust der Familie und des unterstützenden sozialen Umfelds als grosse Belastung hinzu. Unter diesem psychischen Druck neue Kontakte zu knüpfen und sich ein gesundes soziales Umfeld aufzubauen, ist eine grosse Herausforderung. Für eine gute Integration und als Grundlage für eine Behandlung des Traumas ist genau das aber wichtig. Eine niederschwellige psychosoziale Begleitung kann die jungen Migrantinnen und Migranten dabei unterstützen. Aber auch hier fehlt es an Angeboten.
Mit 1 bis 10 zum Ziel
terre des hommes schweiz hat durch die Projektarbeit im südlichen Afrika und Lateinamerika langjährige Erfahrung in der Arbeit mit traumatisierten Jugendlichen. In unseren Auslandsprojekten arbeiten wir erfolgreich mit der Methode des lösungsorientierten Ansatzes (Solution Focused Approach, SFA). Statt auf die Probleme und Schwächen Betroffener fokussiert SFA auf ihre Stärken und Ressourcen. Sie lernen, diese zu erkennen und zu entwickeln, sodass sie aus eigener Kraft aktiv werden und ihrem Leben eine positive Wendung geben können.
Zum Beispiel mit Zwischenschritten von 1 bis 10. Bei dieser Übung überlegten sich die Teilnehmenden ein Ziel, das sie erreichen möchten. Ava schreibt auf, dass sie für ihre Schwester eine Unterkunft finden möchte. Andere schreiben, sie möchten einen Ausbildungsplatz bekommen oder Deutsch lernen. Das Ziel bekommt die Nummer 10. Jetzt überlegen sich alle, ob sie auf dem Weg dahin erst am Anfang, auf Schritt 1 oder 2, stehen oder schon weiter sind. Und wofür stehen die verbleibenden Teilschritte? Was muss passieren, dass das Vorhaben einen Schritt vorwärtsmacht.
Probleme liegen lassen
Solche und andere Übungen lernten die Teilnehmenden im viertägigen Workshop im Jura kennen, der im Juli zum zweiten Mal stattfand. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit unterschiedlichen Aufenthaltsstatus entdeckten spielerisch, wie viele Ressourcen, welche Stärken und Fähigkeiten sie haben.
Mit unserer Unterstützung konnten sie damit beginnen, persönliche Bewältigungsstrategien und Zukunftsvisionen zu entwickeln und herauszufinden, welche konkreten, kleinen Schritte sie machen können. Sie entdeckten, welchen Handlungsspielraum sie trotz aller Einschränkungen haben und wie sie diesen nutzen können. Dafür durften sie für einmal ihre Probleme liegen lassen und sich darüber klar werden, was ihre eigenen Stärken sind.
«Es war beeindruckend, wie gut die jungen Migrantinnen und Migranten wussten, welches ihre nächsten Schritte sind», so Co-Leiterin Sylvia Valentin. «Sie haben eine genaue Vorstellung davon, welche Ausbildungen sie machen und welche Berufe sie lernen möchten.» Von den Hürden ihres Aufenthaltsstatus sollen sie sich nicht aufhalten lassen. Und mit einem gesunden Umfeld haben sie die Power, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen und sich in der Schweiz einzufinden.
Unterstützen Sie hier unsere Projekte in der Schweiz, in Afrika und Lateinamerika unter anderem mit traumatisierten Jugendlichen und zur Gewaltprävention.